BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wiehl

Berührende Worte zum Volkstrauertag

Die Rede von Barbara Degener anlässlich des Volkstrauertages 2022

Bielstein 13.11.2022

Zusammen mit befreundeten Musikern spielen wir derzeitig eine Motette von Heinrich Schütz. Sie entstand im Jahre 1648, also angesichts der Gräuel des 30jährigen Krieges. Und sie geht mir ans Herz, jedesmal eigentlich, wenn ich sie höre. Vielleicht spricht der alte Text in der Übersetzung Martin Luthers nicht mehr jeden von Ihnen an. Er lautet:

Verleih uns Frieden gnädiglich Herr Gott in diesen Zeiten. Es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, als du, o Gott, alleine“

Aber die Sprache der Musik kann jeden von uns erreichen. Da schwingt beharrlich die Sehnsucht nach Frieden in weichen Bögen mit, während zugleich die Streitenden in drängenden Stakkati zu hören sind. Man hört förmlich die Geschütze donnern. Die Sehnsucht bleibt – und der Streit endet nicht. So erlebte es Heinrich Schütz 1648,

– und so erleben wir es heute.

Es ist eine gute Tradition, die wir heute am Volkstrauertag fortführen, indem wir der Opfer von Krieg und Gewalt gedenken. Mir persönlich ist sie in diesem Jahr ein An­liegen wie nie zuvor. War es in den vergangenen Jahren eher so, dass ich meiner El­tern und der Verstrickungen ihrer Generation in den 2. Weltkrieg gedachte, sicher auch da schon in eigentlich nicht zulässiger Verengung, so ist uns der Krieg mit all seinen Folgen heute in gewisser Weise auf den Leib gerückt. Wir erleben die Folgen in der Verknappung und Verteuerung von Energie- und Lebenshaltungskosten. Wir beobachten mit großer Sorge die Rückschläge bei der Klimapolitik und den wachsenden Hunger in der Welt. Wir sehen und lesen von den Kämpfen in der Ukraine, von den blutigen Opfern und ah­nen, wie viel Leid das nicht nur in den ukrainischen Familien bedeutet, sondern auch in denen der Angreifer. Da trauern auch Mütter, Frauen und Kinder aus Russland und den assoziierten Ländern vor allem im Kaukasus und im Osten der Föderation. Da werden Menschen physisch und psy­chisch extrem belastet, da werden Wunden geschlagen, deren Heilung Jahrzehnte dauern wird, wenn sie denn überhaupt möglich ist. Mitten in Europa drohen oder be­stehen bereits Hunger, Kälte, Elend und Tod.

Das alles gab und gibt es weltweit, das haben wir auch in Europa schon erlebt, z.B. bei den Auseinandersetzungen rund um den Zerfall Jugoslawiens. Ich erinnere an die Kriege in Syrien, dem Irak, Afghanistan und in afrikanischen Staaten mit den Flücht­lingsströmen in ihrer Folge. Das alles hat uns beschäftigt und viele von uns bewegt, helfend tätig zu werden.

Aber seit dem 24.Februar hat es infolge des russischen Einmarsches in der Ukraine einen Paradigmenwechsel gegeben. Das war kein Krieg mehr, aus dem man sich „heraushalten“ konnte, weil die Großmächte allenfalls als Stellvertreter agierten, son­dern ein unmittelbarer Angriff der Großmacht Russland auf einen europäischen Staat mit der erklärten Absicht, ihn zu vernichten. Für uns Deutsche brachte das die bittere Er­kenntnis, dass wir den Glauben an einen „Wandel durch Handel“ fürs erste begraben haben. Die Folge war ein Beschluss, die Bundeswehr als Teil einer europäischen Ver­teidigungstruppe massiv aufzurüsten. Und dazu ständig vor der Entscheidung zu ste­hen, welche und wie viele Waffen wir der Ukraine zur Verteidigung überlassen. Wir werden Teil der Tötungsmaschinerie, von der wir uns bisher immer glaubten distan­zieren zu können. Bisher haben unsere Soldaten ja immer nur zur Erhaltung eines friedlichen Zivillebens gedient, unsere Waffen zu deren Sicherung. Nun dienen sie dem Angriff. Nun können und sollen sie auch töten.

Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels wurde in diesem Jahr an den ukraini­schen Autor Serhij Zhadan (Schadan) verliehen; eigentlich ist das ein Skandal. Denn Zhadan nimmt in seinem jüngsten Buch mit der Veröffentlichung seiner Kriegsmitschriften kein Blatt vor den Mund, wenn es um seinen Hass gegenüber den russischen Angreifern geht: „Die Russen sind Barbaren, sie sind gekommen, um un­sere Geschichte, unsere Kultur, unsere Bildung zu vernichten.“ Ist es nicht die Aufga­be eines Schriftstellers, für Versöhnung einzutreten und die menschlichen Züge gera­de auch des Gegners hervorzuheben? Zhadan aber hat sich für die Waffe und für den verbalen Angriff entschieden. Er ist selbst zutiefst erschrocken über seine eigene Wandlung und erklärt sie damit, dass er die Folgen des Krieges unmittelbar erlebt habe, die traumati­sierten Kinder, den gefallenen Freund. Der Kommentator in der „Zeit“ Volker Weidemann meint, dass der Preis zu Recht an Zhadan gegangen sei. Viele Zeugen der Nationalversammlung in der Paulskirche von 1848 seien auch bereit gewesen, für die Verteidigung der Men­schenrechte „todesfreudig“ in den Kampf zu ziehen.

Mich persönlich erschreckt und verstört dieser Paradigmenwechsel. „Frieden schaffen ohne Waffen“. Daran habe ich geglaubt und muss nun – wenn ich ehrlich bin ja nicht zum ersten Mal – erleben, dass diese Sicht etwas zu einfach ist.

Trotzdem

– hoffe ich darauf, dass auf nichtöffentlichen Wegen weiterhin Verhandlungen laufen, um diesen Krieg zu beenden.

– hoffe ich darauf, dass es nicht nur Hass und Zerstörung in diesem Krieg gibt, sondern auch Momente der Mitmenschlichkeit, auch da, wo Menschen aufeinanderstoßen, die zu Gegnern geworden sind oder gemacht wurden.

– hoffe ich darauf, dass es bald einen Wiederaufbau gibt. Und dass wir mit Russland und allen Staaten der ehemaligen Sowjetunion einen Weg des friedlichen Miteinan­ders finden.

Vor einiger Zeit haben wir einen „Ehrenfriedhof“ in Voßhagen in der Nähe von Hückeswagen besucht. Dort liegen 44 Kriegsgefangene und eine Zivilarbeiterin begraben. Sie alle haben in den 40iger Jahren im Lager Hammerstein gelebt, das von den Nationalsozialisten errichtet wurde, um Zwangsar­beiter unter anderem für den Eisenbahnbau unterzubringen. Viele von ihnen sind nach wenigen Monaten gestorben, weil sie bereits geschwächt ankamen und der Schwerstarbeit gar nicht gewachsen waren. Auf diesem Friedhof haben ne­beneinander russische und ukrainische Arbeiter ihre letzte Ruhe gefunden. Sie waren letztendlich gestorben, weil sie für das gleiche Ziel gekämpft haben, nämlich die Deutschen aus ihrer Heimat zu vertreiben. Russen und Ukrainer Seite an Seite gegen das Unrecht.

Die Bonner Historikerin Katja Makhotina macht darauf aufmerk­sam, dass die Nationalsozialisten gerne alle Mitglieder der Sowjetarmeen als „Rus­sen“ bezeichnete. Damit wollten sie den Eindruck verstärken, man habe es mit „bolschewistisch Verseuchten“, mit „Untermenschen“, mit Gewalttätern zu tun. Der multinationalen Charakter der sowjetischen Armee wurde ausge­blendet. Auch in der Bundesrepublik wurde das noch oft so gesehen, Kriegsheimkeh­rer sprachen von russischer Gefangenschaft, den üblen Erfahrungen mit den Russen, von der russischen Gefahr. Bei den Kriegshandlungen, den bösen darunter wie aber auch der Befreiung z.B. der Konzentrationslager standen in der sowjetischen Armee die Vertreter etlicher Nationen Seite an Seite.

Alle diese Nationen waren auch Op­fer der deutschen Verbrechen.
In Belarus z.B. wurden1,7 Millionen Menschen umgebracht, fast 1 Fünftel von neun Mil­lionen der Vorkriegsbevölkerung. Das ukrainische Dorf Korjukiwka wurde zum Opfer einer brutalen Vernichtungsaktion. Etwa 6.000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder,wurden hier von den Einsatzgruppen im März 1943 mit Maschinen­gewehren erschossen und verbrannt. …. Die historische Verantwortung Deutschlands besteht darin, nie wieder gleichgültig gegenüber den Opfern von Krieg und Gewalt zu sein. Auch deshalb soll der Ukraine unsere uneingeschränkte Solidarität gelten.

Was können wir tun?

Mir scheint es wichtig, den differenzierenden, sachlichen Blick zu bewahren. Sich klar darüber zu bleiben, dass es keine einfache Situationen und erst recht keine einfachen Lösungen gibt. Ich glaube im Zusammenhang des Ukrainekrieges z.B. nicht, dass eine ständige Betonung des „russischen gewaltsamen Angriffs auf die Ukraine“ hilf­reich ist.– kaum ein Presseartikel kommt ja ohne diese Bewertung aus, so als ob wir ständig auf eine bestimmte Einordnung der Dinge gestubst werden müssten – Natür­lich verurteile ich, was da geschieht, aber ich meine auch, dass ein solcher Sprachge­brauch dabei stört, sich innerlich für Signale des Wandels offen zu halten. Genauso, wie es im persönlichen Umgang mit anderen Menschen nicht hilft, sie von vornehe­rein mit bestimmten Attributen zu versehen, ohne die man sie am Ende schon gar nicht mehr wahrnehmen kann.

Mehr denn je glaube ich,

  • dass wir vorsichtig sein sollten mit vorgefassten Meinungen.
  • dass wir das Wagnis eingehen und trotz allem an die Änderung des Menschen glauben sollten. Wir brauchen diesen Glauben nicht nur hier, sondern auch angesichts der anderen Krisen, die wir gemeinsam bewältigen müssen.
  • dass wir Hoffnung wecken sollten, unter anderem, indem wir alle guten Entwicklungen sehen und lauthals öffentlich machen
  • dass wir immer wieder dem anderen entgegen­kommen müssen
  • dass wir zu unserer eigenen Schuld stehen sollten. Dazu gehört für mich auch die Frage, ob ich, ob wir ein Recht auf unseren Wohlstand haben und ab wann das Teilen zur Pflicht wird.
  • dass wir geduldig dranbleiben, immer aufs neue Wege des Friedens zu suchen. 

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